3.1.8 Das Problem der 120 Jahre in 1.Mo. 6,3

Grundsätzlich gibt es in der Auslegungsgeschichte nur zwei Möglichkeiten der Deutung der 120 Jahre. Manche Ausleger sehen darin eine besondere Gnadenfrist, die Gott der vorsintflutlichen Welt noch geben wollte. Viele Christen schließen daraus, daß Noah 120 Jahre vor der Flut von Gott schon genau das Jahr der Flut im voraus offenbart bekam. Mit diesem Augenblick hätte Noah begonnen der Menschheit die Flut anzukündigen und gleichzeitig die Arche zu bauen.

Persönlich denke ich mit vielen anderen Auslegern, daß damit viel eher das Lebensalter der Menschen nach der Sintflut gemeint ist, welches Gott von über 900 Jahren auf 120 Jahre herabsetzen wollte. Es ist daher nach meinem Verständnis eine prophetische Aussage, in der Gott den Menschen vorwarnen wollte, daß seine Lebenszeit in Zukunft um Jahrhunderte kürzer sein würde. Hier werden aber manche Ausleger einwenden, daß man dies nicht so sehen kann, denn das Alter der Menschen ging ja nicht sogleich nach der Flut von 900 auf 120 Jahre herunter.

Das war erst etwa 1000 Jahre nach der Flut der Fall. Nun sollten wir aber beachten, daß ja der Bibeltext nicht sagt, wann Gott das Alter bis auf 120 Jahre herabsenken wird und auch nicht auf welche Weise und gemäß welches Prozesses. Es wird auch nicht gesagt, wem Gott das sagte. Es steht nirgends, daß Gott es dem Noah offenbarte, und dies unmittelbar nach der Sintflut zu erwarten sei. Gemäß des hebräischen Textes steht auch nicht, daß Gott selbst das Alter durch sein direktes Eingreifen herabsetzen würde, wie es der Luthertext offensichtlich gerne sagen möchte. Nach einer älteren Lutherübersetzung (1937) lesen wir: ”Ich will ihnen noch Frist geben hundertundzwanzig Jahre.”

Nach dieser Übersetzung liegt es sehr nahe, daß damit tatsächlich die Gnadenfrist vor der Flut gemeint sein könnte, die Gott selbst mit 120 Jahren festsetzte. Eine solche Übersetzung könnte aber durchaus einem gewissen traditionellem Denken angepaßt sein.

Die revidierte Übersetzung von 1977 sagt nämlich: ”Ich will ihm (dem Menschen) als Lebenszeit geben 120 Jahre.” In diesem Fall würde man schon eher an die verkürzte Lebensdauer des Menschen denken, die Gott selbst durch sein direktes, übernatürliches Eingreifen herabsetzten würde.

Die Elberfelder Bibel übersetzt allerdings noch etwas anders: ”und seine Tage seien 120 Jahre!” Damit sind wohl eher die Lebenstage des einzelnen Menschen gemeint.30 Das ”Ich will” kommt in dieser Übersetzung nicht mehr vor. Damit wird nicht mehr Gott als direkter Verursacher oder als direkter Bewirkender dieser Verkürzung dargestellt.

Die Elberfelder Bibel ist hier dem Grundtext auch am nächsten. Wir lesen im hebräischen Text: ”...und seine (des Menschen) Tage werden hundertundzwanzig Jahre sein.”

Wer das veranlassen würde und in welcher Zeit und auf welcherlei Art und Weise das geschehen sollte, bleibt nach dieser Grundtextformulierung vollkommen offen. Der Satz steht gemäß der deutsch-hebräischen Interlinearübersetzung in der Zukunftsform und sagt lediglich, daß die Lebenstage des Menschen irgend einmal - (die Zeit ist unbestimmt!) - nur mehr 120 Jahre sein würden. Es steht auch nicht, daß Gott das tun würde, sondern daß es einfach so sein wird.

Diese Verminderung des Alters muß daher nicht unbedingt an ein direktes übernatürliches Eingreifen Gottes gebunden sein. Sie muß auch nicht auf eine ganz bestimmte Zeit und auf einen ganz bestimmten Prozeß limitiert sein, innerhalb dessen sich das abspielen sollte. Nach dieser Übersetzung aus dem Grundtext wird es daher sehr schwer sein, hier an eine besondere von Gott noch geschenkte und präzise limitierte Gnadenfrist vor der Flut zu denken.

Es ist in diesem Textabschnitt wohl vielmehr daran zu denken, daß Gott hier voraussieht, welche Auswirkungen die Sünde der Menschen und die daraus resultierende Sintflut auf die Lebenserwartung der nachsintflutlichen Menschen haben würde. Warum sollte Gott solch eine einschneidende Veränderung bezüglich der Lebenserwartung nicht auch im voraus ankündigen? Auch in diesem Zusammenhang muß wohl das Wort des Propheten Amos gelten: ”Gott tut nichts, er offenbare denn seinen Ratschluß den Propheten seinen Knechten.” (Amos 3, 7)

Gott tat auch in diesem Falle nichts, was er nicht vorher angekündigt hätte. Wir sollten uns wirklich bewußt machen, was es für die Menschen nach der Flut bedeutet haben mußte, durchschnittlich etwa 500 Jahre, bzw. später und heute sogar 800-850 Jahre kürzer zu leben als die Väter vor der Flut! Hätte Gott die Menschen vor der Flut nicht auf eine Veränderung des Alters ihrer Kinder aufmerksam gemacht, wäre es eine unwahrscheinliche Überraschung für die Nachkommen Noahs gewesen, plötzlich zu bemerken, daß sie so früh sterben mußten.

Doch mit dieser Ankündigung der 120 Jahre, hat Gott offensichtlich die Menschen unmittelbar vor der Flut auch darauf vorbereitet, daß die Lebenserwartung ihrer Nachkommen in dramatischster Weise zurückgehen würde.

Deshalb denke ich, daß 1.Mo.6,3 mit den 120 Jahren nicht von einer besonderen Gnadenfrist spricht, die den Menschen vor der Flut noch zu einer Umkehr gegeben waren, sondern daß Gott hier seine Kinder prophetisch über die zukünftige Lebenserwartung ihrer nachsintflutlichen Nachkommen unterrichtete.